Bundesweit ist der Bestand der Stieglitze seit 1990 um knapp 50 Prozent zurückgegangen

Es ist meistens eine zweifelhafte Ehre, wenn eine Art für die Auszeichnung Tiere und Pflanzen des Jahres nominiert wird. 2016 sind das unter anderem der Hecht, der Stieglitz oder die Wiesenschlüsselblume. Klingt nach Allerweltsarten, die jeder kennt und die weit verbreitet sind. Aber es handelt sich um Tiere und Pflanzen, deren Lebensräume sich auch im Landkreis München verändern, was dazu führt, dass die Populationen abnehmen. Der Stieglitz (Carduelis carduelis) zum Beispiel. Bundesweit ist der Bestand der Stieglitze seit 1990 um knapp 50 Prozent zurückgegangen.

Er ist einer der farbenfrohen Vögel Deutschlands, bereits die rote Gesichtsmaske mit dem weiß und schwarz gefärbten Kopf ist markant. Der Distelfink, wie er auch genannt wird, ernährt sich vornehmlich von den Samen verschiedener Blütenpflanzen, Gräsern und Bäumen. Eigentlich ist er ein wenig anspruchsvoller Vogel, der sich von einer Vielzahl von Früchten und Samen ernährt. Ein paar Disteln hier, und eine Staude dort. Doch der wohl schönste Singvogel hierzulande hat es gerade auch im Münchner Umland zunehmend schwer.
Ornithologin Sophia Engel vom Landesbund für Vogelschutz (LBV) macht am Stieglitz eine Entwicklung fest, die bei vielen anderen Vogel- und Tierarten überhaupt zu beobachten ist. Sie orientieren sich weg vom immer intensiver bewirtschafteten ländlichen Raum. Sie zieht es in die Städte und Vororte, die mit ihren Nischen bei der Nahrungssuche vielen Tieren noch etwas bieten. Die Blumenwiesen mit einem reichlichen Angebot gibt es schon lange nicht mehr. Den jüngsten, starken Rückgang bei der Stieglitz-Population führt Engel nun darauf zurück, dass gerade in dem von einem hohen Siedlungsdruck gekennzeichneten Münchner Umland auch noch die letzten Brachflächen verschwinden. Bauerwartungsland werde in kürzester Zeit Bauland, sagt sie. Selbst Restflächen, wie Ackerränder zu Bächen oder Wegen hin, würden mittlerweile bewirtschaftet. Sophia von Engel spricht wegen der jüngsten Entwicklung von einem "Totalverlust" an wildbewachsenen Flächen, auf denen bisher Pflanzen gediehen seien, die einem Vogel wie dem Stieglitz Nahrung geboten hätten. Deshalb ist ihren Worten nach dieser Vogel oft an Orten zu finden, an denen man ihn nicht erwartet. So etwa in Gewerbegebieten, wo es eben noch die eine oder andere ungepflegte Fläche gibt, an denen Disteln wachsen dürfen.

Nach Angaben des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) sind bundesweit seit 1994 fast 90 Prozent dieser Brachflächen verloren gegangen und damit auch die Habitate der Stieglitze. Nur noch 40 Prozent der Gesamtpopulation lebt noch in der Agrarlandschaft, 60 Prozent wurden in den Siedlungsraum verdrängt. Der Naturfotograf Andreas Hartl aus Dorfen bei Erding sagt, "es ist schon fast dramatisch, wenn in der Stadt mehr Wildtiere leben als in der Landwirtschaft". Die Natur befinde sich "auf dem Rückzug". Grünland oder Ödlandflächen, wie sie der Stieglitz benötige, seien für Maisanbau für Biogasanlagen umbrochen worden. Vogelkundlerin Sophia Engel beobachtet, dass Flächen mehr und mehr "durchgepflegt" würden. Herbizide und Pestizide verrichteten ganze Arbeit. "Tiere, die sich von unerwünschten Pflanzen ernähren, denen entzieht man die Nahrungsgrundlage."

Naturfotograf Hartl bestätigt diese Beobachtungen. Als Autofahrer hat man im Frühling den Eindruck, die Wiesenschlüsselblumen etwa seien immer noch weit verbreitet, weil man sie überall entlang der Straßenböschungen sieht. Aber die Straßenböschungen sind ihr "letzter Rückzugsraum", sagt Hartl. Eigentlich seien die Schlüsselblumen Begleitblumen der Wiesenbäche. Weil aber bis an die Bäche hin gedüngt werde und die Schlüsselblumen keine Gülle vertragen, würden ihre Lebensräume zerstört. Man sehe sie daher fast nur noch in Parks und eben an Straßenböschungen. Dort werde nicht gedüngt und spät gemäht, so dass die Schlüsselblumen noch aussamen könnten. "Es ist makaber", sagt Hartl, dass Straßenböschungen als Rückzugsräume herhalten müssten. "Das ist wie mit den Bussarden, die dort tot gefahrene Viecher fressen, weil sie sonst nichts mehr finden."

Dabei ist der Stieglitz in der Region München keineswegs in seiner Existenz bedroht. Die Fröttmaninger Heide und die Isarauen bieten Freiräume. Nach wie vor gebe es den Vogel relativ häufig, sagt Sophia Engel, weil er anpassungsfähig sei. Insgesamt hält es die Vogelkundlerin aber für einen Trugschluss zu glauben, man könnte Artenvielfalt alleine über geschützte Naturflächen erhalten. Vielmehr müssten in besiedelten stadt- und ortsnahen Gebieten Flächen einem naturnahen Bewuchs überlassen werden. Initiativen, die "naturnahe Gärten" propagierten oder solche wie das "Netzwerk Blühende Landschaft" gingen in die richtige Richtung.

Der Stieglitz mag bäuerliche Siedlungen mit Obstbaumkulturen sowie blumen- und artenreiche Wiesen. Auch in halboffenen Landschaften mit Alleen, Straßenbäumen, Feldgehölzen, Hecken oder Hopfenkulturen ist er zu Hause. Und wer Pflanzen in seinem Garten gedeihen lässt, die ihm Nahrung bieten, der wird mit dem Besuch des wohl attraktivsten hier heimischen Singvogels belohnt. Sophia Engel nennt den Vogel des Jahres 2016 einen "echten Sympathieträger".
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 29.08.16
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