Feldlerche (Alauda arvensis), Braunkehlchen (Saxicola rubetra), und Baumpieper (Anthus trivialis) verlassen nun auch scharenweise das Engadin, das unter Ornithologen als letzte Hochburg dieser typischen Vertreter des Kulturlands gilt. Diese jüngste Feststellung aus einer langen Liste von Hiobsbotschaften zum Zustand der Biodiversität in der Schweiz stammt von Forschern unter Leitung von Roman Graf von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach, die Bestandsaufnahmen aus den Jahren 1987 und 1988 wiederholt haben.
Nach etwas mehr als zwei Jahrzehnten hat die Feldlerche auf den 12 Quadratkilometer grossen, repräsentativen Untersuchungsflächen zwischen Silsersee und Tschlin fast zwei Drittel ihres Bestands eingebüsst; beim Braunkehlchen und beim Baumpieper sind es rund die Hälfte. Die gesamte Anzahl an Revieren aller Brutvögel des Kulturlands hat insgesamt um ein Viertel abgenommen.
Solche Bestandseinbrüche gehen meist mit einer Verschlechterung des Lebensraums einher. Tatsächlich haben im Engadin artenreiche Magerwiesen seit Ende der 1980er Jahre um 55 Prozent abgenommen; 17 Prozent der Feuchtgebiete sind verschwunden. Ein Zehntel der Wiesen wird deutlich intensiver genutzt: künstlich bewässert, stärker gedüngt, früher und oft häufiger gemäht. Dies zerstört die Gelege der drei oben genannten Wiesenbrüter regelmässig und verringert das Futterangebot.
Das Engadin ist keine Ausnahme. Im ganzen Alpenraum gehe die biologische Vielfalt im Kulturland zurück, sagt Markus Jenny von der Vogelwarte Sempach. Im Berner Oberland und in der Zentralschweiz etwa gibt es vom Braunkehlchen nur noch vereinzelte Brutnachweise. In den Berggebieten der Schweiz finde eine ähnliche Entwicklung statt wie in den 1960er und 1970er Jahren im Mittelland, sagt der Agrarökologe: Die landwirtschaftliche Nutzung werde auf Kosten der Biodiversität intensiviert. Auch im Mittelland halten die Verluste an. Der Swiss-Bird-Index (SBI), der die Situation der Schweizer Brutvögel seit 1990 landesweit dokumentiert, zeigt einen anhaltend negativen Trend für jene Arten, für die die Landwirtschaft eine besondere Verantwortung trägt.
Manch einer wundert sich angesichts dieser Entwicklung: Ist unsere Landwirtschaft nicht besonders verantwortungsbewusst? Bekommen die Betriebe nicht nur dann Direktzahlungen in Höhe von gesamtschweizerisch fast drei Milliarden Franken, wenn sie einen ökologischen Leistungsnachweis erbringen und mindestens sieben Prozent ökologische Ausgleichsflächen ausweisen?
Die letzte Evaluation der Ökomassnahmen, die das Bundesamt für Landwirtschaft durchgeführt hat, datiert aus den Jahren 1996 bis 2005. Die gute Nachricht: Die Landwirtschaft hat im Mittelland, wo die ökologischen Defizite besonders gross sind, fast 12 Prozent ökologische Ausgleichsflächen ausgewiesen und damit das quantitative Ziel sogar übertroffen. Dennoch stellen die Forschenden von Agroscope den Flächen ein bescheidenes Zeugnis aus, wie dem Bericht zu entnehmen ist: «Das Ziel, mit dem ökologischen Ausgleich den Rückgang der gefährdeten Arten zu stoppen und ihre Wiederausbreitung zu ermöglichen, wird nicht erreicht.»
Die Bilanz der ökologischen Ausgleichsmassnahmen blieb deutlich unter den Erwartungen. Was läuft schief? Aufschlussreich ist eine Anfang Jahr publizierte Studie eines Teams unter der Leitung von Thomas Walter von Agroscope zum Anteil qualitativ wertvoller Naturflächen im Kulturland. Im Mittelland liegt dieser Wert zwischen 2,2 und 4 Prozent. Es stellt sich also die Frage, was genau in den 12 Prozent ökologischen Ausgleichsflächen geschützt wird. Offenbar gibt es ein deutliches Defizit in der Qualität der ökologischen Ausgleichsflächen.
Um den Grossteil der typischen Artenvielfalt des Kulturlandes im Mittelland zu erhalten, müssten je nach Region 60 bis 100 Prozent der ökologischen Ausgleichsflächen von guter ökologischer Qualität sein, das schliesst Walter aus seinen Ergebnissen. Mehr qualitativ hochwertige ökologische Ausgleichsflächen wären dabei durchaus im Sinne des Steuerzahlers, wie Forschende von Agroscope und der Universität Zürich zeigen konnten. Ihre Befragung hat ergeben, dass die Bevölkerung Landschaften mit wertvollen Ausgleichsflächen wie Hecken, Hochstamm-Obstgärten und Blumenwiesen sehr schätzt.
Aus gewissen Landwirtschaftskreisen hört man jedoch immer wieder, dass es einen Konflikt zwischen Nahrungsmittelproduktion und Biodiversität gebe. Zu Unrecht, wie ein 50-köpfiges internationales Forschungsteam unter Schweizer Beteiligung zeigen konnte. Die in der Fachzeitschrift «Science» publizierten Resultate aus 19 Ländern beleuchten die Bedeutung der Artenvielfalt in Agrarlandschaften für die Sicherung der landwirtschaftlichen Erträge: Wildbienen und andere blütenbesuchende Insekten mit ihrer hohen Bestäubungsleistung sorgen für eine reichere Ernte. Doch diese Leistung der Natur ist weltweit in Gefahr, weil naturnahe Lebensräume im Kulturland zunehmend fehlen. Die Wissenschafter fordern deshalb den Schutz und die Neuanlage von blüten- und strukturreichen Lebensräumen im Kulturland.
Gerade angelaufen ist das europäische Forschungsprojekt «Quantifizierung von Ökosystemdienstleistungen für eine nachhaltige Landwirtschaft». Ziel des Projekts, an dem auch Agroscope-Forscher beteiligt sind, ist es, den ökonomischen Wert naturnaher Lebensräume zu untersuchen. Im Zentrum stehen neben der Bestäubung auch die Schädlingsregulierung sowie der Schutz vor Bodenerosion und die Anreicherung von Humus im Boden. Bei Agroscope wird mit Blumenstreifen in Ackerkulturen experimentiert. Erste Resultate deuten darauf hin, dass solche «Nützlingsblühstreifen» zur Reduktion des schädlichen Getreidehähnchens in Weizenfeldern beitragen können.
Um die Qualität von ökologischen Ausgleichsflächen zu erhöhen, versuchen Wissenschafter auch, die Bewirtschaftung bestehender Flächen zu optimieren oder neue Typen von Ausgleichsflächen ins Leben zu rufen. Bei ungedüngten Blumenwiesen etwa hat sich als problematisch erwiesen, dass die einzelnen Flächen komplett und alle fast gleichzeitig gemäht werden. Eine Untersuchung von ETH Zürich und Agroscope hat ergeben, dass nur wenige Insekten die Ernte überleben. Sie plädieren deshalb dafür, ungeschnittene Bereiche als Zufluchtsorte stehen zu lassen. Forschungsresultate zeigen, dass die Heuschreckendichte am Ende der Ernte in den Altgrasflächen zwei- bis dreimal höher war als vorher.
Qualität und Quantität der einzelnen Ausgleichsfläche sind das eine; genauso wichtig sei aber, dass die Flächen vernetzt seien, sagt Jenny. Untersuchungen der Vogelwarte und der Universität Basel haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Feldgrille oder eine Grosse Goldschrecke anzutreffen, mit der Erreichbarkeit anderer Ausgleichsflächen steigt. Die einzelnen Flächen seien praktisch immer zu klein, um lebensfähige Tier- und Pflanzenpopulationen zu beherbergen. Ihre sinnvolle Anordnung und Vernetzung in der Landschaft ist deshalb unabdingbar.
Während die Forschung Fakten präsentiert, stellt die Agrarpolitik die Weichen in Bezug auf die Ökologisierung der Landwirtschaft. Doch auch die neue Agrarpolitik 2014–2017 dürfte den Anreiz zu mehr ökologischer Qualität in den Ausgleichsflächen nur leicht verstärken, so Jenny. Der Wissenschafter weist allerdings darauf hin, dass bereits unter dem heutigen Agrarsystem viel möglich ist, wenn Landwirte motiviert und gut beraten sind.
Im Rahmen einer Studie des Forschungsinstituts für biologischen Landbau und der Vogelwarte konnte in mehreren Fallbeispielen gezeigt werden, dass nach einer gesamtbetrieblichen Beratung der Anteil an wertvollen Ausgleichsflächen von 3,3 auf 8,5 Prozent stieg – ohne negative Auswirkungen auf die Produktion. Im Gegenteil: Das landwirtschaftliche Einkommen erhöhte sich dank den ökologischen Massnahmen gar um durchschnittlich 3500 Franken pro Betrieb und Jahr.
Den Vorwurf, dass die ökologischen Ausgleichsflächen die Nahrungsmittelproduktion konkurrenzieren, hält Jenny für ein Scheingefecht. Auf den meisten Ausgleichsflächen wie Wiesen, Weiden und Ackerschonstreifen werden standortgerecht und nachhaltig tierische oder pflanzliche Nahrungsmittel produziert. Brachen, Säume und Hecken, die nur der Biodiversitätserhaltung dienen, machen lediglich 1,3 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus. Die dadurch verursachten Verluste an Lebensmitteln sollten laut Jenny im Verhältnis zur allgemeinen Verschwendung gesehen werden: Ein Drittel aller Lebensmittel wird nämlich weggeworfen.
Verbesserungen erhoffen sich die Forscher von der Agrarpolitik 2018–2022. Die Diskussionen dazu sind bereits eröffnet. Immerhin soll der Erfolg oder Misserfolg in Zukunft messbar sein. Die Bundesämter für Umwelt und Landwirtschaft haben Agroscope beauftragt, ein Langzeit-Monitoringprogramm «Arten und Lebensräume Landwirtschaft» zu entwickeln (siehe Agrarbericht, Seite 95). Ziel ist es, alle fünf Jahre den Zustand der Artenvielfalt in der Kulturlandschaft und den Ausgleichsflächen zu erheben. Im kommenden Jahr wird der Routinebetrieb getestet. Dieser sollte 2015 beginnen, so dass 2020 eine erste Bilanz gezogen werden kann.
Damit es keinen «stummen Frühling» gibt, hat die Gemeinde Tschlin im Engadin bereits reagiert: Zusammen mit engagierten Landwirten hat sie das erste Schutzgebiet für wiesenbrütende Vogelarten eingerichtet.
Quelle: NZZ, 27.11.2013
http://www.nzz.ch/wissenschaft/uebersicht/dem-kulturland-gehen-die-arte…
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