Bei der Zulassung von chemischen Substanzen muss das ‹Paracelsus-Zeitalter› zu Ende gehen. Die Risikobewertung von Chemikalien ist dringend und umfassend zu revidieren

Das Paradigma von Paracelsus «Dosis sola facit venenum» (nur die Dosis macht das Gift) bildet noch immer die Grundlage für die Beurteilung der Risiken von Chemikalien. Bei der Risikoanalyse geht man davon aus, dass – mit Ausnahme der Genotoxizität – für praktisch alle potenzielle Risiken von chemischen Substanzen Schwellenwerte definiert werden können, unterhalb derer keine toxische Wirkung beobachtet wird. Dieser Ansatz wird unserer Meinung nach als einer der größten Fehler der Toxikologie in die Geschichte eingehen. Denn dabei wird die kumulative Toxizität mancher giftiger Substanzen ungenügend berücksichtigt. Bereits in den 1940er-Jahren kamen der Pharmakologe Hermann Druckrey und der Mathematiker Karl Küpfmüller mit theoretischen Ansätzen zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen zum Schluss, dass der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle bei der Wirkung von toxischen Substanzen spielen kann. Ihr Ausgangspunkt war die heute allgemein akzeptierte Ansicht, dass die pharmakologische oder toxische Wirkung einer Substanz durch die Wechselwirkung mit einem spezifischen Rezeptor entsteht, bzw. durch die Bindung an diese ‹Andockstelle› einer Zelle. Druckrey und Küpfmüller konnten zeigen, dass irreversible Wechselwirkungen – also Bindungen – zu einem Effekt führen, der sowohl von der Dosis als auch von der Zeit abhängig ist.

Quelle:
Mangelhafte Risikobewertung der Zulassungsbehörden
Chemikalien: Menge und Zeit machen das Gift
Dr. Henk Tennekes, Zutphen (NL) und Dr. Josef Hoppichler, Wien (A)
Erschienen in "OEKOSKOP" 4/15, Fachzeitschrift der Schweizerischen Umweltorganisation "Ärtztinnen und Ärzte für Umweltschutz" (Anhang)