Die Ersetzung von Druckreys Dosis-Zeit-Wirkungsgesetz durch den flexibleren Acceptable Daily Intake ist eine historische Fehlentwicklung

In den 1950er Jahren vertrat die Farbstoffkommission der DFG unter der Leitung des Biochemikers Adolf Butenandt und des Pharmakologen Hermann Druckrey eine Politik der Risikovermeidung in Bezug auf Lebensmittelzusatzstoffe. Sie rekapitulierte damit einen Diskurs über „Gift in der Nahrung“ und eine zivilisationskritische Deutung eines inneren Zusammenhangs zwischen Fremdstoffen und Krebsentstehung, der bereits zu Beginn der 1930er Jahre ausformuliert worden war. Narrative der Reinheit und Kontamination wurden dabei in mathematische Modelle (Dosis-Zeit-Wirkungs-Gesetz) und legislative Maßnahmen (Novelle des Lebensmittelgesetzes 1958) übersetzt. Mit der Organisation EUROTOX und im Rahmen des JECFA versuchte Druckrey eine Pharmakologie des Krebses auch auf globaler Ebene zu installieren. Ende der 1950er Jahre wurde jedoch diese puristisch-präventive Risikopolitik durch das Primat des Ökonomischen zurückgedrängt. Mit der Ersetzung von Druckreys
Dosis-Zeit-Wirkungsgesetz durch den flexibleren Acceptable Daily Intake setzte sich eine industrie- und handelsfreundliche Politik der Risikokalkulation gegen die Politik der Risikovermeidung durch, die seitdem vor allem von der in diesem Kontext erst entstehenden Verbraucherbewegung vertreten wurde.

Die Gefährdung des Menschen in einer chemisierten und technisierten Umwelt fand ihren formalisierten Ausdruck im Dosis-Zeit-Wirkungs-Gesetz, das Hermann Druckrey Ende der 1940er Jahre verkündet hatte. Der 1904 geborene Druckrey, der 1931 der SA beigetreten war sowie 1942 das Pharmakologische Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität verlassen hatte, um daraufhin als Stabsarzt eines SS-Polizeibataillons an die Front zu gehen und seit Juni 1944 ein direkt mit SS-Institutionen verbundenes Pharmakologisches Institut der Polizei in Wien aufzubauen, verdankte es Butenandt, dass er überhaupt noch wissenschaftlich tätig sein konnte. Nach Kriegsende versorgte Butenandt, der selbst während des Nationalsozialismus aktiv in wissenschaftlich-industriell-politische Netzwerke eingebunden war, Druckrey unermüdlich mit Gutachten und adelte ihn als „führenden Forscher(n) im Gebiet der allgemeinen Pharmakologie, insbesondere der experimentellen Krebsforschung“. Druckrey gelang zwar keine großartige universitäre Karriere mehr – er war Leiter der Forschergruppe „Präventivmedizin“ am Freiburger Max-Planck-Institut für Immunbiologie –, dafür renommierte er jedoch als international bekannter und einflussreicher Experte für kanzerogene Stoffe. Die erstaunliche Zusammenarbeit Druckreys mit dem Elektrophysiker Karl Küpfmüller im Internierungslager Hammelburg führte zu einer neuen onkologischen Theorie irreversibler Summationsgifte, nach der die Krebswirkung einer Substanz wie Buttergelb (p-Dimethylaminoazobenzol) von der summierten Gesamtmenge abhänge und nicht von der Größe der Einzeldosen. Entscheidend für die kanzerogene Wirkung sei das Zusammenwirken von Konzentration und Zeitdauer. Krebsentstehung sei ein chronischer pharmakologischer Prozess, der mathematischen Gesetzmäßigkeiten folge. Die kanzerogene Wirkung des Buttergelbs bleibe auch bei kleinsten Einzeldosen auf Lebenszeit irreversibel bestehen und summiere sich mit der Wirkung späterer Gaben, bis sich nach Überschreiten der kritischen Gesamtdosis Geschwülste entwickelten. Druckrey und Küpfmüller resümierten schließlich, dass die Auslösung von Mutationen und Tumoren auf irreversiblen Wirkungen physikalischer oder chemischer Agentien beruhe. Die Teilwirkungen der einzelnen Tagesdosen vererbten sich zudem ungeschmälert auf die Tochterzellen. Kanzerogene Substanzen, so lautete Druckreys radikale Botschaft, sind „‚Erbänderungsstoffe‘ mit irreversibler Wirkung“. Die Topoi der Krebsdebatte der 1930er und 1940er Jahre waren auf elegante Weise zusammengeführt und in ein ambitioniertes mathematisches Modell überführt. Druckrey konnte sich dabei auf eine bald 30 Jahre laufende Debatte stützen, die schon in den Texten zum „Gift in der Nahrung“ zusammengefasst worden war. Der toxikologischen Repräsentation entsprach eine gesundheitspolitische Intervention, die keinen Spielraum für Risikokalkulationen ließ und in Bezug auf Summationsgifte nur Risikovermeidung gestattete. Während die Ermittlung von Grenzwerten komplexe technowissenschaftliche und soziale Konfigurationen in Praktiken des Risikomanagements und der Gefahrenregulierung übersetzte, funktionierte die Summationsthese der Krebsentstehung ausdrücklich im Sinne einer Politik der Risikovermeidung.
Aus der Summationsthese ergaben sich drei gravierende risikopolitische Folgerungen: Bei krebserregenden Substanzen können keine Sicherheitsgrenzen festgelegt werden; jede Substanz muss eingehend, ausdauernd und mehrfach geprüft werden; Krebsprävention ist erfolgreicher als Krebstherapie. Für Druckrey stellten irreversible Giftwirkungen die eigentliche Gefahr dar, während reversible Wirkungen nur von untergeordneter Bedeutung waren, da sie von der Konzentration der Substanz bestimmt seien und erst oberhalb einer ,,Schwellendosis“ in Erscheinung träten. Damit ließen sie sich aber auch durch eine genügende Sicherheitsspanne ausschließen. Mit der Differenzierung von reversibler und irreversibler Wirkung konstituierte Druckrey um 1950 eine
neue Risikopolitik prekärer Stoffe. Gemeinhin wurde im Anschluss an Paracelsus’ berühmtes Diktum, dass die Dosis das Gift mache, davon ausgegangen, dass geringe Mengen von Farbstoffen, die in Lebensmitteln verwendet werden, prinzipiell als toxikologisch „unterschwellig“ und daher bedeutungslos angesehen werden könnten. Dies, so Druckrey, treffe aber nur für solche Substanzen zu, deren pharmakologische Wirkungen reversibel seien. Irreversible Giftwirkungen beständen hingegen über die ganze Lebenszeit fort. Neben das Risikomanagement und die Risikokalkulation bei reversiblen Giften trat die Risikovorbeugung und -vermeidung bei irreversiblen Noxen. Es entstand
ein neues Risikoepistem. Die Summationsthese war in den 1950er Jahren bei den bundesdeutschen gesundheitspolitischen und lebensmittelrechtlichen Verfahren, namentlich der Novelle des Lebensmittelgesetzes im Jahr 1958, der entscheidende Referenzpunkt. Druckrey selbst trug seine Position am 6. Februar 1957 auf einer Sitzung des Gesundheitsausschusses persönlich vor. Die SPD-Abgeordnete Käte Strobel verwendete im Bundestag Druckreys These als Hauptargument für eine scharf gefasste Gesetzesnovelle.

In den 1950er Jahren initiierten der Biochemiker Adolf Butenandt und der Pharmakologe Hermann Druckrey als Vorsitzende einer „Kommission zur Bearbeitung des Problems der krebsfördernden Wirkung von Farbstoffen in Lebensmitteln“ der DFG eine onkologische Politik, die das „Gift in der Nahrung“ durch präventive Maßnahmen, Aufklärung der Verbraucher, Positivlisten und langfristige toxikologische Studien zu verhüten suchte. Im Rahmen der Organisation EUROTOX arbeiteten sie daran, die Pharmakologie krebserregender Stoffe europaweit durchzusetzen. Die maßgeblich von Druckrey verfassten „Godesberger Beschlüsse“, welche diese Programmatik zusammenfassten, wurden zu einer Grundlage des 1955 eingerichteten Joint FAO/WHO Expert Committee on Food Additives (JECFA). Um 1960 wurde der ernährungsreformerisch und zivilisationskritisch ausgerichtete Standpunkt zur Krebsvorsorge im Rahmen der Weltgesundheits- sowie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation allerdings durch das wirtschaftlichen Interessen entsprechende flexible Grenzwertkonzept des Acceptable Daily Intake ersetzt.
In den 1960er Jahren geriet die Unterscheidung zwischen reversiblen und irreversiblen Stoffen jenseits toxikologischer Fachdiskurse in Vergessenheit. Druckreys Summationslehre hat zwar bis heute den Status einer wissenschaftlichen Tatsache inne, aber seine im historischen Kontext von
Technik- und Zivilisationskritik entstandene Theorie hat ihre risikopolitische Relevanz verloren. Das komplexe Gefüge der frühen 1950er Jahre, das in der Bundesrepublik durch eine Politik der Risikovermeidung gekennzeichnet war, wurde spätestens seit den 1960er Jahren in die präventionistisch-puristische Position der Verbraucher- und Ökologiebewegung einerseits und die transnationale Regulierung von Lebensmittelkontrolle und wirtschaftlichen Interessen andererseits geschieden. Mit dem ADI setzte sich weltweit eine Politik der Risikokalkulation durch, deren wissenschaftliche Grundlagen, namentlich in Bezug auf Schwellenwerte für Krebs erzeugende Chemikalien, bis heute höchst umstritten sind. Risikobewertungen, das zeigt die kurze Geschichte
der Lebensmittelzusatzstoffe, müssen immer auch als historische Ereignisse analysiert werden, die chemische Prozesse, soziokulturelle Verhandlungen, politische und ökonomische Interessen sowie puristische Diskurse und zivilisationskritische Ideologien in Beziehung setzen.
Es stellt sich aber die Frage, ob Risiken von Chemikalien mit dem Paracelsus-Paradigma und der Bestimmung von Schwellenwerten abgehandelt werden dürfen. Die theoretischen Ansätze zu den Dosis-Wirkungs-Beziehungen von Druckrey und Küpfmüller sind nicht nur für genotoxische Karzinogene anwendbar. Sie gelten für alle Substanzen, die irreversible Wechselwirkungen mit spezifischen Rezeptoren verursachen. Und die gibt es zahlreich. Die Toxizität vieler Substanzen – einschliesslich Organophosphaten und Neonicotinoiden – wird ebenfalls in verschiedenen Testmodellen durch die ‹Habersche Regel› oder die ‹Druckrey-Küpfmüller-Gleichung› beschrieben. Auch hier wurden in der Praxis irreversible Bindung an spezifische Rezeptoren nachgewiesen. Werden solche Substanzen allein mit dem Paracelsus-Paradigma bewertet, kommt es zu einer Unterschätzung der Risiken. Weil der Vorgang zeitabhängig ist, sind die Risiken nicht über Schwellenwerte definierbar.
Quellen:
Heiko Stoff, Zur Kritik der Chemisierung und Technisierung der Umwelt. Risiko- und Präventionspolitik von Lebensmittelzusatzstoffen in den 1950er Jahren in: TG Technikgeschichte, Seite 229 - 250 TG, Jahrgang 81 (2014), Heft 3, ISSN print: 0040-117X, ISSN online: 0040-117X, DOI: 10.5771/0040-117X-2014-3-229
Henk Tennekes und Josef Hoppichler (2015). Chemikalien: Mengen und Zeit machen das Gift. Oekoskop (Fachzeitschrift der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz) 15-4, 19-22