Als die amerikanische Biologin Rachel Carson vor mehr als 50 Jahren ihr Buch "Silent Spring" veröffentlichte, löste sie damit eine weltweite Bewegung gegen Pestizide wie das berüchtigte DDT aus. Damals standen viele Vogelarten kurz vor dem Aussterben, weil das Pflanzenschutzmittel ihre Eierschalen so dünnwandig machte, dass sie zerbrachen, wenn sich ein Vogel zum Brüten daraufsetzte. DDT wurde in vielen Ländern verboten, 1972 auch in Deutschland. Gerade noch rechtzeitig für Wanderfalke (Falco peregrinus), Habicht (Accipiter gentilis) und Seeadler (Haliaeetus albicilla), die dadurch vor dem Aus gerettet wurden. Mittlerweile haben sich die Bestände dieser Arten so gut erholt, dass sie ganz von der Roten Liste der bedrohten Vogelarten gestrichen werden konnten.
Doch den Erfolgen beim Schutz weniger Großvögel stehen in den vergangenen Jahren drastische Bestandseinbrüche bei vielen anderen Vogelarten gegenüber. Die kürzlich veröffentlichte Neufassung der Roten Liste zeigt, dass viele bis vor kurzem überall häufige Arten in existenzielle Not geraten sind. Da Vögel sogenannte Indikatoren sind, kann man die von Ornithologenverbänden, den staatlichen Vogelschutzwarten und dem Bundesamt für Naturschutz herausgegebene "Rote Liste der Brutvögel Deutschlands" durchaus als eine Art Fieberkurve zum Zustand der gesamten Natur in Deutschland lesen.
Die auf 49 Seiten zusammengestellten Daten und Analysen sind das Ergebnis Zehntausender Stunden, in denen Wissenschaftler und ein Heer von Freiwilligen die Tiere beobachtet und kartiert haben. Weil die Liste seit mehr als vier Jahrzehnten im Abstand von einigen Jahren immer wieder aktualisiert wird, erlaubt sie auch Aussagen zu Langzeittrends. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der aktuellen Ausgabe: Es sind nicht mehr allein die ohnehin seltenen oder bei der Wahl ihres Lebensraums besonders anspruchsvollen Arten, denen es immer schlechter geht. Zunehmend geraten auch ehemals häufige Allerweltsvögel in Bedrängnis. Erstmals finden sich Wachtel (Coturnix coturnix), Gartenrotschwanz (Phoenicurus phoenicurus), Rotmilan (Milvus milvus) und Goldammer (Emberiza citrinella) wegen ihres starken Rückgangs auf der Vorwarnliste - allesamt typische Bewohner ländlicher Gebiete. Star (Sturnus vulgaris), Bluthänfling (Carduelis cannabina), Rauchschwalbe (Hirundo rustica) und Mehlschwalbe (Delichon urbicum) wurden sogar als "gefährdet" eingestuft. "Die Zahl gefährdeter Arten war seit Mitte der 1990er-Jahre nicht so hoch wie aktuell", bilanzieren die Autoren.
Am härtesten trifft es Vögel, die im landwirtschaftlich besonders intensiv genutzten "Offenland" leben, also auf Feldern und Wiesen. Drei Viertel dieser Arten sind mittlerweile in einer der Kategorien von "ausgestorben" bis "gefährdet" eingestuft. Zählt man die Arten hinzu, die auf der Vorwarnliste stehen, sind es sogar 87 Prozent. Der einstmals häufige Wiesenpieper (Anthus pratensis) beispielsweise hat in den vergangenen Jahren die Hälfte seines Bestandes eingebüßt und steht nun neben Kiebitz (Vanellus vanellus), Braunkehlchen (Saxicola rubetra) und Turteltaube (Streptopelia turtur) in der zweithöchsten Gefährdungsstufe "stark gefährdet", unmittelbar an der Schwelle zur höchsten Stufe "vom Aussterben bedroht". Dort sind unter anderen Haubenlerche (Galerida cristata), Steinschmätzer (Oenanthe oenanthe), Brachpieper (Anthus campestris) und Bekassine (Gallinago gallinago) gelistet.
"Der Rückgang der Arten der Agrarlandschaft ist so stark wie seit der DDT-Krise in den 1960er Jahren nicht mehr", sagt Martin Flade, der sich beim "Dachverband Deutscher Avifaunisten" wissenschaftlich mit der Bestandsentwicklung dieser Vogelarten befasst. "Eine dramatische Situation, die energische Schritte erfordert", warnt der Ornithologe. "Wir haben in den vergangenen vier Jahrzehnten etwa die Hälfte unserer Feldvögel verloren, bei einigen Arten wie Kiebitz, Rebhuhn (Perdix perdix) oder dem Braunkehlchen sieht es noch viel schlechter aus. Dort, wo diese ehemaligen Allerweltsarten verschwunden sind, wird der stumme Frühling langsam zur erschreckenden Realität", sagt Norbert Schäffer, Vorsitzender des bayerischen Landesbunds für Vogelschutz (LBV).
"Es wirken offensichtlich großflächig bestandsgefährdende Faktoren auf viele Arten und Individuen ein", bilanzieren die Autoren der Roten Liste mit Blick auf eine in großen Teilen industriell betriebene Landnutzung auch in den vermeintlich grünen ländlichen Regionen. Immer stärker werde die Artenvielfalt auf dem Land etwa durch den Rückgang von Insekten wegen des starken Chemikalieneinsatzes bedroht. "Der Mangel an Nahrung ist der wichtigste Faktor, der zum Verschwinden zahlreicher Vogelarten führt", sagt auch LBV-Chef Schäffer. "Dazu kommen eine zu hohe und zu dichte Vegetation durch zu starke Düngung oder der Verlust von Brutplätzen durch die Beseitigung lebendiger Lebensraumstrukturen wie Kleingewässer, Hecken oder wildpflanzenreicher Wegränder."
Untersuchungen belegen dies. Vögel finden in der maschinengerechten modernen Agrarsteppe häufig schlicht nicht mehr genügend Nahrung, um ihre Jungen vor dem Verhungern und die Art vor dem Bestandseinbruch zu bewahren. "Das Problem ist, dass der größte Teil der Agrarlandschaft zur ökologischen Wüste wird - oder schon geworden ist", bilanziert Flade, der früher das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin vor den Toren Berlins leitete. Dort ließen Wissenschaftler von Menschen aufgezogene junge Rebhühner in unterschiedlichen Pflanzen-Kulturen nach Nahrung suchen und verglichen die Ergebnisse: Danach hätten die Vögel in Maisfeldern theoretisch 32 Stunden täglich ununterbrochen nach Futter suchen müssen um ihren täglichen Nahrungsbedarf zu decken. Sie können dort also unmöglich überleben.
Verschärft wird die Lage für viele Vogelarten nach Einschätzung der Wissenschaftler auch durch die Energiewende. Denn die Nachfrage nach großen Flächen zum Anbau von Mais und Raps zur Energiegewinnung oder zum Aufstellen von Windrädern heize den Wettbewerb um die verbliebenen Flächen und den Preisdruck weiter an. Kaum ein Acker bleibe deshalb länger als Brache oder Stilllegungsfläche wirtschaftlich zeitweise ungenutzt. Solche "Naturparadiese auf Zeit" sind mittlerweile fast ganz aus der Agrarlandschaft verschwunden. Es ist paradox, aber der Boom des Ökostroms verschärft die ökologische Krise auf dem Land weiter.
Deutschland ist in der negativen Öko-Bilanz für seine gefiederten Bewohner keine Ausnahme. Europaweit kommen Wissenschaftler zu ähnlichen Ergebnissen, etwa in einer vor zwei Jahren im Fachblatt Ecology Letters veröffentlichten Studie der Universität von Exeter und der britischen Vogelschutzorganisation RSPB. Analysiert wurde die Entwicklung von 144 Vogelarten in 25 europäischen Ländern während der vergangenen drei Jahrzehnte. Demnach gibt es heute in Europa etwa 420 Millionen Vögel weniger als vor 30 Jahren. 90 Prozent des Verlustes betreffen die häufigsten Vogelarten, darunter Haussperling, Feldlerche und Star. "Die Zahl der Vögel in Europa nimmt in einem alarmierenden Tempo ab und ein großer Teil betrifft Vögel, die unter der Intensivierung der Landwirtschaft leiden", erklärt Studienleiter Gregory Inger. "Es ist klar, dass die Art und Weise, wie wir mit unserer Umwelt umgehen, selbst für die häufigsten Arten nicht dauerhaft tragfähig ist", bilanziert der Leiter der RSPB-Forschungsabteilung Richard Gregory.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in Nordamerika. Das aus Vogelschützern und Regierungsstellen in den USA und Kanada bestehende Bündnis "Partners in Flight" kommt in einem Forschungsbericht zu dem Ergebnis, dass dort heute eine Milliarde Vögel weniger leben als vor 40 Jahren. Auch hier werden die intensive Landwirtschaft und der Einsatz von Chemikalien als zwei der Hauptursachen für den Rückgang der Vogelpopulationen genannt. Wie in Europa verzeichnen auch in Nordamerika einstmals sehr häufige Vogelarten die größten Einbußen und wie hier trifft es Arten der "Offenlandschaft" und insektenfressende Vögel besonders hart. "Häufige Vögel in ihrem Bestand zu erhalten, solange wir es noch können, ist genauso wichtig, wie seltene Arten vor dem Aussterben zu bewahren", lautet das Fazit der Forscher.
Für eine Trendwende müsste der Ökolandbau einen Anteil von mindestens 50 Prozent haben. Trotz der kritischen Lage warnen Vogelschützer wie Schäffer vor Fatalismus. Entscheidend sei, jetzt umzusteuern. "Wir wissen bei Feldvögeln recht genau, was wir tun müssen: den Einsatz von Agrochemikalien verringern, Lebensräume wiederherstellen und den Anteil der Ökolandwirtschaft ohne Dünger und Pestizide vergrößern. Die Bestände unserer Feldvögel würden sich dann relativ schnell wieder erholen." Auch Agrarvogelexperte Flade sieht in einem Ausbau der Bio-Landwirtschaft einen Ausweg aus der Öko-Krise für Vögel. Das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin als größte zusammenhängende Ökolandbauregion Deutschlands zeige, dass Naturschutz und Landwirtschaft kein Widerspruch sein müssten, sagt Flade, der dort seit mehr als 20 Jahren Vogelbestände erhebt. "Die Daten zeigen, dass in dem Bereich, der seit Anfang der 1990er Jahre vom Ökolandbau dominiert ist, die Bestandsrückgänge größtenteils aufgehalten wurden." Und auch die Menschen hätten etwas davon. "Diese Region ist wirtschaftlich prosperierend, der Agrartourismus boomt und es gibt praktisch keine Arbeitslosigkeit." Für eine Trendwende sei aber ein Anteil von mindestens 50 Prozent nötig. Gegenwärtig sind es bundesweit gerade einmal gut sechs Prozent.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 25.10.16
http://www.sueddeutsche.de/wissen/gefaehrdete-vogelarten-es-droht-ein-s…
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