Die Insekten sterben lautlos

Dass die Insekten auf dem Rückzug sind, ist vielen Menschen nicht bewusst. Eine Ausnahme bilden die Bienen. Ihr Niedergang ist bereits länger bekannt, was unter anderem daran liegt, dass sie als fleissige und nützliche Tiere gelten. Der Rest ist meistens nur lästig. Erst langsam spricht sich herum, dass auch Falter, Fliegen und Wespen bedroht sind.

Es ist bezeichnend, dass ihr Verschwinden vor allem als Windschutzscheiben-Phänomen wahrgenommen wird. Wo noch vor wenigen Jahrzehnten hartnäckiger Fliegen- und Wespenbrei die Sicht beim Autofahren behinderte, klatschen heute kaum noch Insekten auf die Scheibe.

Wer über das Ausmass des Sterbens mehr erfahren möchte, muss nach Nordrhein-Westfalen fahren. Am Niederrhein führt der Entomologische Verein Krefeld seit Jahrzehnten Buch über den Zustand der Insektenwelt. Der Verein ist längst eine Institution, nicht nur unter Experten. Seit 1905 trägt er Bestandszahlen von Standorten im Rheinland zusammen. Auf ihr Archiv sind sie in Krefeld besonders stolz.

Dass heute überhaupt belastbare Zahlen vorliegen, ist das einzigartige Verdienst des Krefelder Vereins. Ohne seine Erhebungen wäre wohl immer noch nicht bekannt, wie schlecht es um die Insekten wirklich steht. Im Dezember 2013 entschloss sich der Verein, eine seiner «Entomologischen Mitteilungen» herauszugeben. Der Inhalt hatte es in sich: Mehr als drei Viertel aller Insekten sind verschwunden - und das in weniger als 25 Jahren. Die Medien griffen das Thema sofort auf. Und die Leute sprachen plötzlich vom Insektensterben.

Diese Zahl tauchte in Zeitungen auf, in Pressemitteilungen der Umweltverbände und kürzlich auch im Wahlprogramm der deutschen Grünen. Tatsächlich stammt der Wert aber nur von zwei Standorten in einem Krefelder Naturschutzgebiet. Gingen dort Ende der achtziger Jahre noch 1400 Gramm Insekten unterschiedlichster Arten in die Falle, sammelten sich in den vergangenen Jahren bloss noch 300 Gramm.

Der Rückgang umfasst Fliegen und Mücken, aber auch Schmetterlinge und Bienen. Bei den Schwebfliegen ging die Zahl an einem anderen Standort von exakt 17 291 Exemplaren und 143 Arten im Jahr 1989 auf 2737 Exemplare und 104 Arten zurück.

Aber kann man die beiden Befunde aus dem Orbroicher Bruch einfach auf ganz Mitteleuropa übertragen? «Natürlich nicht», sagt Martin Sorg. Es handle sich um punktuelle Messungen. Aber überall, wo man nachschaue, seien die Bestände rückläufig. Nicht nur die Standorte in Nordrhein-Westfalen sind klar im Minus, sondern auch Messungen aus Südengland, den Niederlanden und Ungarn. Zudem, so Sorg, sei der Rückgang von Insektenpopulationen ein Thema, das ihm auch in alten Texten immer wieder begegne.

Umweltverbände und grüne Politiker haben die Zahlen aus Krefeld eigenwillig interpretiert und einfach landesweit hochgerechnet. Das wiederum führte zu jenen Alarmismusvorwürfen, mit denen sich Insektenforscher nun konfrontiert sehen. Jedenfalls tobt ein Kampf um Meinungshoheit, obwohl an den Zahlen der Wissenschafter grundsätzlich nichts auszusetzen ist. Das Insektensterben ist Fakt. Dennoch sind die Entomologen vorsichtig geworden.

Es gibt nur einen Grund für Optimismus: ihre zähe Natur. Man könne Insekten eigentlich nicht ausrotten, sagen Insektenforscher.

Deutlich wird das, wenn sie klare Ursachen des Insektensterbens benennen sollen. Eine einfache Erklärung gebe es nicht, sagen sie. Aber immer wieder fällt ein Begriff: Pestizide. Ein grosses Problem sind die Monokulturen. Sie laugen die Böden aus und verbrauchen grosse Mengen Dünger und Pflanzenschutzmittel. Vielfalt ist auf diesen Feldern nicht vorgesehen, deshalb gibt es praktisch keine Hecken, keine Bäume, keine Pfützen und damit keinen Lebensraum für Käfer, Heuschrecken und Libellen.

Der wohl wichtigste Grund für das Sterben klingt am Ende ziemlich simpel: Insekten finden immer weniger Raum. «Die Hauptursache ist die Intensivierung der Landwirtschaft», bestätigt der Tierökologe Johannes Steidle von der Universität Hohenheim. Viele seiner Kollegen, wie der Berner Ökologe Wolfgang Nentwig, sind ähnlicher Meinung. Allerdings sehen die Wissenschafter die Verantwortung nicht bei den Bauern allein, sondern auch beim Rest der Gesellschaft, der auf billigen Lebensmitteln besteht.

Zudem wird seit Jahren immer häufiger gespritzt. Das wirksamste und bequemste Mittel, lästige Insekten loszuwerden, ist das Nervengift Imidacloprid, das zu der Gruppe der sogenannten Neonikotinoide gehört. Da das Saatgut mit dem Wirkstoff gebeizt wird, verbreitet er sich über die ganze Pflanze und steckt somit auch in Pollen und Nektar. Etliche Wissenschafter halten die Mittel für gefährlich, die Zulassungsbehörden sahen bisher allerdings keinen Grund, sie zu verbieten. Auch die Hersteller bestreiten negative Folgen.

Es ist paradox: Dort, wo auf den ersten Blick nur ein paar Unkräuter gedeihen, fühlen sich die Insekten am wohlsten. Sie mögen das karge, sich selbst überlassene Land, laben sich an Blüten von Wildkräutern und verstecken sich in Totholz. Für die Insekten mögen solche Landschaften ein Paradies sein, für den Menschen sind sie unprofitables Land. Deshalb wird Totholz meist gleich beseitigt, eine Magerwiese mithilfe von Dünger in ein hochleistungsfähiges Rapsfeld umgewandelt.

Ändert sich nichts, wird sich das Insektensterben fortsetzen. Am Ende gibt es nur einen Grund für etwas Optimismus: ihre zähe Natur. Man könne Insekten eigentlich nicht ausrotten, sagen Insektenforscher. Hoffentlich behalten sie recht.

In der Schweiz stark bedroht:

Felsenfalter (Chazara briseis): Dieser Tagfalter ist einer der seltensten Schmetterlinge in der Schweiz, es sind nur zwei Reliktpopulationen im Jura und im Münstertal (GR) bekannt. Sein Lebensraum – extensiv bewirtschaftete Trockenweiden in den Alpen – verschwindet mit der zunehmenden Vergandung.

Berliner Prachtkäfer (Dicerca berolinensis): Auch dieser Käfer ist in der Schweiz vom Aussterben bedroht. Seine Larven entwickeln sich in urwüchsigen Laubwäldern, deren Holz noch steht, sich aber im Absterben befindet. Weil der Berliner Prachtkäfer so selten ist, richtet er kaum wirtschaftlichen Schaden an.

Sägeschrecke (Saga pedo): Diese Heuschrecke gehört zu den seltensten Insekten Europas, hierzulande ist sie vom Aussterben bedroht. Bis jetzt wurden fast nur Weibchen beobachtet, die bis zu neun Zentimeter gross werden. Man vermutet, dass sich die Sägeschrecke durch Jungfernzeugung vermehrt.

Quelle: NZZ, 11.08.17
https://nzzas.nzz.ch/wissen/die-insekten-sterben-lautlos-ld.1310137