Der niederländische Toxikologe Henk Tennekes behauptet, dass die Neonikotinoide generell verantwortlich sind für eine Verschärfung des Überlebenskampfes auf Feld und Wiese. „Vor unseren Augen“,sagt Tennekes, „findet der ökologische Kollaps statt“, einer, der womöglich das durch das Insektizid DDT einst verursachte Vogelsterben übertrifft. Folgen, wie Tennekes sie nicht nur für Feld-, sondern auch für Wasservögel beschreibt: Die Insektizide töten oder schwächen Insekten und rauben Vögeln die Nahrung.
Der Toxikologe Tennekes, Leiter des niederländischen Instituts Experimental Toxicology Services ETS in Zutphen, misst dem Mechanismus dieser erst seit den neunziger Jahren vermarkteten Insektizide einen „revolutionären“ Charakter bei: Denn die Mittel müssen nicht unbedingt gesprüht werden. Sie können auch als Mantel um das Saatkorn gelegt oder als Granulat ins Erdreich gemischt werden. Aus Korn oder Boden gelangt das Insektizid so in alle Teile der Pflanze. „Insekten, die daran knabbern, sterben.“ Da die Stoffe langlebig und wasserlöslich sind, waberten sie unkontrolliert durch die Umwelt.
Diese 2010 also selbst von Ornithologen ungläubig betrachtete These von den Nikotinoiden aber wird inzwischen auch von anderen Wissenschaftlern gestützt, wenn auch mit einem anderen Zungenschlag. So zeigen Arbeiten eines Teams um den niederländischen Wissenschaftler Caspar A. Hallmann vom Sovon-Zentrum für Ornithologie und der Radboud-Universität in Nijmegen, dass eben nicht nur Insekten direkt durch die Verwendung von Neonikotinoiden wie Imidacloprid getroffen werden. Sondern dass auch Vögel mindestens indirekt ein Opfer dieser Wirkstoffe sind. Denn immer dann, wenn in der Agrarlandschaft die Konzentration von Oberflächengewässern 20 Nanogramm (im Wasser spielt sich das Larvenstadium vieler Insekten ab, auf die Vögel in ihrer Ernährung angewiesen sind) überstieg, zeigte sich ein eklatanter Rückgang der Insekten-fressenden Vögel. Die Pestizide töten die Larven der Insekten, womit dann den Vögeln die Nahrungsgrundlage verloren geht.
Dabei galten Neonikotinoide bisher immer als selektive Gifte. Aber, so Koautor Hans de Kroon von der Radboud Universität, „unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sie das gesamte Ökosystem beeinträchtigen“. Diese Pestizide stellen damit ein viel größeres Risiko dar als erwartet, wie die Wissenschaftler betonen. Die Daten von 15 Arten, darunter Rauchschwalbe, Wiesenpieper, Wiesenschafstelze, Feldsperling, Feldlerche oder Star, alle mindestens in der Brutphase Insektenfresser, hatten die Wissenschaftler ausgewertet, wobei sie sich auf verschiedene Langzeitstudien stützten. Ihr Ergebnis: Durch die enorme Verringerung der Insektenwelt geht die Population der Vogel-Arten um jährlich 3,5 Prozent zurück. Die Forscher schließen aber nicht aus, dass es neben der Dezimierung der Nahrungsgrundlage auch weitere Faktoren gibt, die zum Rückgang der Feldvögel aufgrund von Neonikotinoiden beitragen. Denn diese Stoffklasse hat eine relativ lange Verweildauer in der Umwelt, eine Anreicherung in der Nahrungskette könne stattfinden, aber auch das Fressen kontaminierter Insekten könne eine Rolle spielen.
Quelle:
WIR SIND DANN MAL WEG - DIE (UN-) HEIMLICHE ARTEN-EROSION
EINE AGROINDUSTRIELLE LANDWIRTSCHAFT DEZIMIERT UNSERE LEBENSVIELFALT
VON STEPHAN BÖRNECKE
DOSSIER UND BESTANDSAUFNAHME IM AUFTRAG VON MARTIN HÄUSLING, MEP
September 2018
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