Neonicotinoide verursachen Artensterben - fehlen Bienen, Schmetterlinge und Fliegen, gerät die Nahrungskette in Gefahr

Zuerst trifft es vor allem Insekten. Doch fehlen Bienen, Schmetterlinge und Fliegen, gerät die Nahrungskette in Gefahr: Pflanzen werden nicht mehr bestäubt, Vögeln fehlt die Nahrung – und früher oder später auch dem Menschen. Woran erkennt man das Artensterben? Antwort: An der Windschutzscheibe. Was wie ein schlechter Witz klingt, ist mittlerweile ein Fakt, den jeder Autofahrer nachvollziehen kann. Waren vor 20 Jahren die Windschutzscheiben bei einer sommerlichen Fahrt übers Land noch voller Insekten, bleibt die Sicht heute fast frei. Selbst die kleinen Schwämmchen, die früher Tankstellen zum Abrubbeln für die an der Scheibe klebenden Insekten bereithielten, gibt es heute kaum noch. Keiner braucht sie mehr.

Artensterben bei den Insekten schon fortgeschritten ist, haben Mitarbeiter des Entomologischen Vereins Krefeld herausgefunden. Die Ehrenamtlichen hatten zwischen 1989 und 2014 an insgesamt 88 Standorten in Nordrhein-Westfalen Fluginsekten gesammelt, ihre Art bestimmt und sie gewogen. Das Ergebnis ist desaströs: „Während wir 1989 noch 1,6 Kilogramm aus den Untersuchungsfallen sammelten, sind wir heute froh, wenn es 300 Gramm sind“, bilanziert Josef Tumbrinck, Vorsitzender vom Naturschutzbund Nabu in Nordrhein-Westfalen. Alle sind betroffen, Schmetterlinge, Bienen und Schwebfliegen. 80 Prozent der Biomasse fehlen mit einem Male.

Den rapiden Artenschwund kann man auch beim Spaziergang über Feld und Wiesen erleben. Wer kennt heute noch Pflanzen wie den Frauenspiegel, die Knollenplatterbse oder das rundblättrige Hasenohr? Sie sind von vielen Äckern verschwunden, denn der Feldzug der modernen Landwirtschaft gegen Ackerwildkräuter ist über das Ziel hinausgeschossen. In nur 50 Jahren sind die Feldpflanzen um mehr als 70 Prozent zurückgegangen.

Vielen Tieren ergeht es nicht anders. „Wenn eine Tierart Feld im Namen stehen hat, dann hat sie schon verloren.“ Dieses Fazit des Vorsitzenden der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie, Oliver Conz, bezieht sich auf Tiere wie Feld-Hamster, Feld-Sperling oder Feld-Hase. Letztere erlegten allein die hessischen Jäger in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts jährlich rund 100 000 Mal. Heute schießen sie noch 3200 – mehr sind nicht da, denn mehr hat die Industrielandwirtschaft, die kaum Hecken und andere Rückzugsorte bietet, nicht übrig gelassen.

Ähnlich die Feldlerche: Allein zwischen 1998 und 2015 ging ihre Population deutschlandweit um mindestens 20 Prozent zurück, in manchen Ländern wie Schleswig-Holstein hat sie sich halbiert. In einigen Gegenden, wie vor den Toren Frankfurts, „ist in 20 Jahren ein Aussterben wahrscheinlich“, prophezeit der Ornithologe Stefan Stübing.

Für viele Menschen war (und ist) Rachel Carsons 1962 veröffentlichter Klassiker „Der stumme Frühling“ ein Schlüsselerlebnis. Zu erschreckend schien damals die Vorstellung, dass durch massiven Pestizid-Einsatz plötzlich keine Vögel mehr zu hören sein könnten. Doch heute sind wir nahe dran: Mit den Ackerwildkräutern verschwinden die Insekten, und mit den Insekten die Vögel. Weil die einen die Nahrung für die anderen sind. Tatsächlich ist der Frühling leiser geworden, seit kaum mehr Feldlerchen tirilieren und immer weniger Spatzen schilpen.

Derzeit sind weltweit 1,4 Millionen Arten bekannt. Davon sind 61 Prozent Insekten, Spinnen und Krebse. Der hohe Anteil der Insekten am Artenspektrum dieser Erde zeige nicht zuletzt, welch hohen Anteil am reibungslosen Zusammenspiel der Arten den Insekten zu verdanken sei, erläutert der Physiker und Insektenforscher Mario Markus in seinem Buch „Unsere Welt ohne Insekten?“. Und wie verletzlich das System ist: „Wie in einem Theaterstück kann alles zusammenbrechen, wenn sich nur ein Schauspieler krankmeldet.“

Die Dramatik wurde beim Landes-Biologentag Baden-Württemberg im vergangenen Herbst deutlich. Die dort versammelten Experten stellten den eklatanten Rückgang der Wildbienen und anderer Insekten in einen ganz engen Zusammenhang mit dem hohen Pestizid-Einsatz in der Landwirtschaft. Fallen die Bienen aus, hat das Folgen. Fehlt die eine Art (Biene), dann geht auch die zu bestäubende Pflanze, ob Apfel oder Himbeere, zugrunde, da Tier und Pflanze aufeinander angewiesen sind. Und dem Menschen geht eine Ernte verloren, weil Bienen die Feldfrüchte nicht mehr befruchten.

Arten verschwinden heute 100 bis 1000 Mal schneller, als es die natürliche Aussterberate nahelegen würde, schreibt die EU in ihrer eigenen Biodiversitätsbilanz. Wissenschaftler der Universität Mexiko berichten im Fachmagazin „Science Advances“, dass die meisten Tierarten in den letzten gut 100 Jahren verschwanden, also seit Beginn der industriellen Revolution. Steht die Erde vor einem weiteren Massensterben von Tier- und Pflanzenarten? Fünf Mal gab es das in der Erdgeschichte bisher, zuletzt vor 65 Millionen Jahren, als sich vermutlich durch einen Meteoriteneinschlag die Erde verfinsterte und das Ende der Dinosaurier besiegelte. Droht nun die sechste Katastrophe? Durch den Menschen – und diesmal auch für den Menschen? Denn der Mensch ist von den Tieren als Nahrungslieferant abhängig.

Im Fokus der Ursachenforschung steht die konventionelle Landwirtschaft. Denn moderne Methoden führen zu einem erhöhten Einsatz von Pestiziden. Das passiert unter anderem so: Der Trend, immer weniger verschiedene Pflanzen im Wechsel anzubauen, also mit einer sehr engen statt wie früher mit einer vielfältigen Fruchtfolge zu arbeiten, verschafft den Unkräutern einen Vorteil. Während in vielfältigen Fruchtfolgen die Wachstumsbedingungen der Unkräuter ständig wechseln, woran sie sich nicht richtig anpassen können, reichern sie sich in engen Fruchtfolgen an. Um das zu stoppen, muss dann die Spritze ran. Hinzu kommen: Statt Äcker mechanisch von störenden Unkräutern zu befreien, greifen Landwirte immer öfter zu Total-herbiziden wie Glyphosat. Zudem erfasst die üblich gewordene frühe Bodenbearbeitung spät keimende Unkräuter nicht mehr, und der Anbau kurzstrohiger Getreidesorten unterdrückt Unkräuter weniger stark. All das steigert den Pestizideinsatz. Ein weiterer Grund ist die Zerstörung von Lebensraum. So wird immer mehr Winterweizen statt Sommergetreide angebaut. Das hat zur Folge, dass der Weizen mitten in der Brutzeit der Lerchen geerntet wird. Dabei wird dann auch die in den Feldern abgelegte Brut getötet.

Auch die Art der eingesetzten Gifte hat einen womöglich gravierenden Einfluss. So glaubt Joseph Tumbrinck an keinen Zufall. Er hat eine Parallele entdeckt: Denn der dramatische Schwund von Insekten setzte vor ungefähr 10 bis 15 Jahren ein. „Da muss etwas ganz anderes passiert sein“, mutmaßt der Mann vom Nabu. Allein durch Umweltschadstoffe, Flächenfraß durch Baugebiete und Straßen, herkömmliche Pestizide oder Überdüngung mit Stickstoff ließen sich die Verluste nicht erklären. Ob Zufall oder nicht? Die neue Klasse der Pflanzenschutzmittel, die Neonicotinoide, ist ebenso lang auf dem Markt.

Den Verdacht haben Forscher schon länger und sie spannen den Bogen noch weiter. In Folge des 2008 beobachteten dramatischen Bienensterbens, ausgelöst durch Neonicotinoide, kam etwa der Toxikologe Henk Tennekes zu dem Ergebnis: Die neuartigen Insektizide rauben Vögeln die Nahrung.

Zwar versucht die Industrie dagegenzuhalten, schließlich sei nichts bewiesen. Doch inzwischen gibt es weitere Hinweise auf Zusammenhänge. Hans de Kroon von der Radboud Universität meint: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass sie das gesamte Öko-System beeinträchtigen.“ Eigentlich sollen Neonicotinoide nur im Nervenzentrum von Insekten und darüber hinaus gezielt auf vermeintliche Schädlinge wirken. Doch nun zeige sich, dass sie auch andere Lebewesen treffen können, und zwar über Bestäuber wie Bienen hinaus Vögel wie die Feldlerche.

In der konventionellen Landwirtschaft ist der Schlüssel für den Verlust der Vielfalt zu finden, hier aber auch können die Menschen ansetzen, um den dramatischen Trend umzukehren.
Quelle: Stephan Börnecke in Schrot und Korn, im Mai 2016
http://schrotundkorn.de/lebenumwelt/lesen/artensterben.html