Die großflächige schleichende Vergiftung von Lebensräumen

"Wann haben Sie das letzte Mal einen Bläuling gesehen?", fragt der BUND-Regionalverband südlicher Oberrhein in einer Presseerklärung. Sie ist illustriert mit einem Foto des himmelblauen Kleinschmetterlings, an dessen Ecke ein Trauerflor angebracht ist. Was ist da los? "Wir erleben gerade einen massiven Rückgang an Schmetterlingen, sowohl der Arten als auch der Individuen", sagt Geschäftsführer Axel Mayer. Bemerkt wird der Schwund auch von naturinteressierten Gartenbesitzern, die sich bisher im Sommer immer über die bunten Falter gefreut haben. So habe ihn, sagt Mayer, erst vor kurzem ein besorgter Bürger aus Freiburg angerufen, der einen naturnahen Garten in unbelasteter Randlage bewirtschaftet. Kaum ein Falter lasse sich sehen auf den verschiedenen Futterpflanzen, die noch vor wenigen Jahren von Schmetterlingen dicht umflattert waren. Kein Gift im Garten, ein ausreichend großes Angebot an Futterpflanzen und trotzdem keine Schmetterlinge – das ist das, was man sieht.

Was man nicht sieht, sind die Gifte der Pflanzenschutzmittel, die über die Luft und den Regen auch in entlegene Ecken getragen werden. "Dieses Problem wurde bisher zu wenig beachtet", sagt Mayer. Blühende Ackerrandstreifen anzulegen sei "recht und nett", aber die großflächige und großräumige Wirkung der Pestizide sei dadurch nicht aufzuhalten.

Dass der Rückgang der Arten nicht nur ein Bauchgefühl von sensiblen Naturfreunden ist, belegen ein Bericht der Europäischen Umweltagentur und die Felddaten regelmäßiger lokaler Beobachtungen. Vor 20 Jahren habe man nach einer längeren Autofahrt erst einmal die Insekten von der Scheibe putzen müssen, auch das habe inzwischen aufgehört, sagt Mayer. Denn es sind nicht nur Schwalbenschwanz, Apollofalter und Co., die verschwinden. Dass gerade sie vermisst werden, liege an ihrer Auffälligkeit und der Sympathie, die der Mensch ihnen entgegenbringt, sagt Mayer. Auch André Grabs, Schmetterlingsexperte aus Gundelfingen, der geführte Schmetterlingsexkursionen anbietet, bestätigt die unheimliche Entwicklung, die in hiesigen Breiten binnen 15 Jahren 80 Prozent der Masse an Insekten gekostet hat.

Neben der industrialisierten Landwirtschaft und dem Straßenverkehr machen auch übereifrige Kleingärtner den Sechsbeinern das Überleben schwer. Nicht nur durch den Einsatz von giftigen Pflanzenschutzmitteln, sondern auch durch die Vorliebe für Exoten wie Kirschlorbeer, Thuja und andere Arten, die für die Insektenwelt keine Nahrung bieten oder – noch schlimmer – für Schotterbeete, die mit einem Vlies gegen sogenanntes Unkraut abgedichtet sind.

Gibt es bei uns irgendwo noch ein Fleckchen intakte Natur, in dem die bunten Flatterwesen überleben können? Ausgerechnet in der Rheinaue südlich von Hartheim bis Weil am Rhein, wo durch die Flussregulierung weite Teile durch das absinkende Grundwasser trocken gefallen sind, ist sozusagen ein Biotop aus zweiter Hand entstanden.

"Der Begriff Trockenaue ist zwar ein Widerspruch in sich, aber gerade hier findet sich noch eine große Vielfalt an Insekten- und vor allem Schmetterlingsarten", bestätigt Juliane Prinz vom Institut für Ökosystemforschung in Bad Krozingen. Der Wald in der Rheinaue sei forstwirtschaftlich uninteressant, aber für die Artenvielfalt von hoher Bedeutung, sagt die Fachfrau, die für die Gemarkung Neuenburg ein Biotop-Verbundsystem konzipiert hat. Dass sich gerade hier eine bundesweit einzigartige Vielfalt an Schmetterlingsarten gehalten hat, bestätigt auch eine Beobachtung des ehemaligen Leiters des Naturschutzreferats im Regierungspräsidium Freiburg, Jörg-Uwe Meinecke: Wo die Wiesen durch dichte Waldsäume vor Fremdeinträgen geschützt sind, ist der Bestand der Insekten weitgehend stabil geblieben. Ebenso in einigen windgeschützten Tallagen des Kaiserstuhls.

Dagegen sind Naturschutzgebiete in der Nähe der großen Agrarsteppen vom Schmetterlingssterben genauso betroffen wie liebevoll gepflegte Naturgärten. "Da wundert man sich nicht, dass neben Schmetterlingen und anderen Insekten auch Singvögel und Fledermäuse selten werden", stellt Meineke fest.

Deswegen müsse die Umweltbewegung an der Problematik der Ferneinwirkung von Agrargiften ansetzen, folgert der BUND laut der Presseerklärung. Die Wirkung der Pestizide werde von den Produzenten verharmlost und Verbote von gefährlichen Stoffen wie Glyphosat durch die Lobbyisten verhindert, sagt Mayer. Wie weit diese Manipulationen reichen, könne man auch an den entsprechenden Wikipedia-Artikeln sehen, etwa zum Stichwort Neonicotinoide. Unter anderem heißt es da: "... wirken auf die Nervenzellen von Insekten weit stärker als auf die Nerven von Wirbeltieren, sie sind daher selektiv." Die "Guten" bleiben am Leben, die "Bösen" sterben.

"Natürlich sehen wir die Bredouille, in der sich unsere Landwirtschaft befindet", sagt Mayer. Trotzdem dürfe die großflächige schleichende Vergiftung von Lebensräumen nicht aus der Diskussion ausgeblendet werden.

Quelle: Badische Zeitung, 30.07.16
http://www.badische-zeitung.de/kreis-breisgau-hochschwarzwald/zu-viel-g…